„(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“
Die körperliche Unversehrtheit, d.h., der uneingeschränkte Respekt vor der Persönlichkeit der Anderen, ist Basis unserer Demokratie. Mit dieser Feststellung könnte die Debatte über die Beschneidung eigentlich erledigt sein.
Und Impfungen von Kleinkindern?
Gibt es nicht auch hier Schmerzen, Fieber, Schwellungen, selten sogar schwere und schwerste Nebenwirkungen? Von körperlicher Unversehrtheit kann man hierbei genauso wenig sprechen, wie bei Beschneidungen. In beiden Fällen wird die körperliche Unversehrtheit eines Menschen, der sich dazu nicht eigenverantwortlich äußern kann, verletzt.
Der Wille, das Grundgesetz zu respektieren und das religiöse bzw. ärztliche Handeln stehen in einem Gegensatz. Der Handelnde befindet sich in einem Dilemma.
Die Begründung für die Verletzung durch das Impfen ist der Gedanke der Prävention, d.h. vorausschauender Gesundheits- und Lebensschutz, der weitgehend durch wissenschaftliche Arbeiten bestätigt ist.
Die Begründung für die Verletzung beim Beschneiden als religiös motiviertes Handeln ist der vorausschauende Schutz transzendentaler Existenz; ist der Glaube,
Ich halte beides für gleich wichtig, meine aber, dass unter Berücksichtigung der historischen Dimension des Entstehens religiöser Riten, die selbst bewusste und selbst bestimmte Entscheidung der Betroffenen maßgeblich sein sollte, sich ihnen zu unterziehen. Das ist bei der Impfung nicht möglich, da die hauptsächliche Schutzwirkung zu diesem Zeitpunkt vorbei wäre. Würde man später impfen, machte man sich einer Unterlassung schuldig und würde dadurch einen größeren Schaden in Kauf nehmen.
D.h. im Fall religiöser Rituale kann es allen Betroffenen ohne Beschädigung ihrer Person selbst überlassen bleiben, ob sie diese annehmen. Aus sachlich-wissenschaftlichen Gründen wäre das bei einer Reihe von Impfungen nicht möglich. Aus Gründen der Fürsorge könnte man daher eine Verletzung akzeptieren.
Das wäre m.E. Grundgesetz konform.
Die politische Dimension
Nun beschränkt sich die Debatte nicht auf die sachliche Auseinandersetzung über die Akzeptanz körperlicher Versehrtheit, viel aufgeregter ist die resultierende politische Debatte.
Unter der Überschrift: „Beschneidungsdebatte empört Israel“ ist in der FAZ vom 25.August 2012 zu lesen, was der Tel Aviver Oberrabbiner Meir Lau zu diesem Thema sagte: „Er sei verwundert, wie viel deutsches Mitgefühl ein Kleinkind erhalte, das weine, weil etwas Blut vergossen werde.“In meiner Kindheit habe ich das nicht gesehen. Das Blut eines Juden war nichts wert und sein Leben konnte von jedem Gestapo-Stiefel zertrampelt werden.““
Die deutsch-nationalsozialistischen Morde mit religiösen Beschneidungsritualen so in Verbindung zu bringen, empfinde ich als höchst bedenklich, weil die Ungeheuerlichkeit dieses Mordens dadurch relativiert wird.
Zum andern gebe ich zu bedenken, dass hier eine Debatte über Rechtsnormen in einer rechtsstaatlich verfassten Demokratie, die sich zum Minderheitenschutz und zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bekennt, in einen Topf geworfen wird mit den Verbrechen der deutschen Willkürdiktatur des Nationalsozialismus. Der Diktatur der Mehrheit über Minderheiten.
Vielleicht wäre es doch angebrachter, sich über die Ernsthaftigkeit einer rechtsstaatlichen, offenen Debatte zu freuen, es gibt auch dieses Deutschland.
Alle religiösen Rituale, wie Beschneidung oder Taufe, haben historische Wurzeln und sind rational nur aus der Epoche ihrer Entstehung zu verstehen. Sie immer und überall absolut zu setzen, ist ihre religiöse Dimension. Diese war historisch keine Frage individueller, freier Entscheidung.
Heute sollte sie es sein.
Jörg Maletz,
Wald-Michelbach, den 25.August 2012
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------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------ "Das Recht auf Dummheit gehört zur Garantie der freien Entfaltung der Persönlichkeit."
Mark Twain
--- Jörg Maletz ist Sprecher des Vereins "Demokratisches Bürgerforum Überwald" ---